Eine mythologisch-historische Satire

DIE GESCHICHTE DER WOKEN, von Amar, geboren Anna-Marie Mendel

§1 Moralist ohne Mitgefühl zu sein war der Grund, weswegen uns niemand hören wollte – auch wenn wir recht behielten. Wir fühlten uns berechtigt, nachdem wir das Wahre und Gute erkannt haben, den anderen, die nicht erleuchtet waren eine Moralpredigt zu halten. Manchmal kam es auch zu massenweisem Spott und Hohn, bis hin zur Exilierung. Letztlich exilierten und wünschten die erleuchteten Moralisten so viele ihrer Mitbürger zum Teufel, dass sie zu einer verhassten intellektuellen Elite wurden. Ganze Städte wurden zur „safe spaces“ bzw. Sicherheitszonen für diese Moralisten. Ich hatte das Glück durch die heilige Erleuchtung die absolute Wahrheit und das höchste Gut erkannt zu haben. Die größte Glückseligkeit meines Lebens war dieses erwachen, oder auch auf Englisch „woke“, zu sein. Die weiteren Glückseligkeiten waren das Leben in einer Sicherheitszone sowie die gleichzeitige Nähe zur Natur. Ich verzichtete auf irdische Begierden, die mich zur Sündhaftigkeit verleiten konnten. Meine Kultur existierte nicht mehr genauso wenig wie mein Geschlecht oder meine Volkszugehörigkeit. Mein Geist wurde gereinigt und meine Seele war frei. Ich wurde teilhaftig mit dem Kosmos, alle Epochen der Weltgeschichte vergangen, gegenwärtig sowie zukünftig und auch alle möglichen Welten. Die Allwissenheit ist der größte Stolz der Erwachten oder so wie wir uns nennen: Woken. Allerdings machte unser Allwissen kaum fähig in der materiellen Welt zurechtzukommen: für die Erwachten ist diese Welt kaum unterschiedlich von einem sehr bösen Albtraum. Nicht einmal unsere Körper entsprachen unserer Identität, während wir bei all unseren rationalen Denken uns nicht die sozialen Ungleichheiten erklären konnten. Jeder Erwachte erkennt sich selbst als ewig an: deswegen sind uns die Konzepte von Familie, Stamm, Volksgruppe oder Nation in Vergessenheit geraten; es ist für uns wie eine Illusion. Jeder erwachte wurde ein mit dem „Einen“: dies ist eine Wahrheit, die nur Erwachte sehen können. Diese dieser Eine, also diese Eine Wahrheit, war die Ursache unserer seins, unserer Erleuchtung, der Unsterblichkeit unserer Seele und unser ewiges Glück. Die Woken-Städte entstanden zuerst in Nordamerika, dann in Westeuropa und in Ozeanien. In diesen drei Weltregionen hat die einzig wahre Religion ihre Wurzeln aufgeschlagen. Millionen Menschen aus aller Welt strömten in diese drei Weltgegenden und ließen sich in den heiligen Städten der Erleuchteten nieder, denn diese konnten wir Woken von der einzigen Wahrheit überzeugen. Leider konnten wir nur wenige hunderte Millionen Menschen zu Wahrheit bekehren. Die Woke-Wahrheit konnte nicht alle Menschen erreichen. Daher verkümmerte die Menschheit in Leid, Schmerz und Unglück. Die Woken, die das Elend der materiellen Welt nie gekannt haben, haben sich nie getraut ihr gesicherten Geburtsstädte zu verlassen. Dies waren die Woken der sogenannten „zweiten Generation“, die nach der Jahrhundertwende geboren waren. Die jüngeren Woken gelten als reinere unter den reinsten, weil sie quasi mit der Erleuchtung ihrer Eltern geboren waren. Die Woken der ersten Generation wurden erst später aus ihrem Albtraum, also ihre Lebenslüge, erwacht. Die zweite Generation zu der mein Kind, was in Wahrheit meine bessere Reinkarnation ist, dazugehört ist so weise, so allgütig, dass es mit dem siebten Lebensjahr Oberbürgermeister*in unserer gebürtigen Millionenmetropole wurde. Diese Stadt ist für uns Woken das neue Jerusalem am Ende der Offenbarung des Johannes. Die Nicht-Woken halten uns für verrückt, weil sie neidisch auf unser strahlendes Glück sind oder nicht gewöhnt sind so viele überglückliche Menschen zu sehen. Die meisten Nicht-Woken haben leider kein glückliches Leben und sind sehr anfällig korrumpiert zu werden. Während der ersten Hälfte des Jahrhunderts, wo mein Kind zur Welt kam, haben Faschisten und Kapitalisten den Großteil der nicht-woken Menschheit versklavt. Der Wille zur Macht geriet ausser Kontrolle gewalttätige Machtergreifungen und Kriege kamen immer öfters vor. Imperien, angeführt von Militärdiktaturen und Großkonzernen, verschlangen kleine Staaten und kleine und mittelgroße Geschäfte auf. Die Stärksten fingen, nachdem sie die schwachen besiegten damit an ewige Kriege unter sich zu führen. Da die Stärksten aber gleichstark waren dauerten diese Kriege mehrere Generationen, ohne dass ein klarer Sieger hervortreten konnte. Die Technologie wurde zum totalitären Kontrollmittel: nicht nur damit die herrschenden Menschenklassen ihre Bevölkerungen unterdrücken und völlig versklaven konnten, sondern auch um die Natur auszubeuten. Mensch und Natur wurden auf reine Produktions- und Ressourcenmittel reduziert. Nur wenige heilige Städte hielten den wilden Wahnsinn in der Welt stand. Diese Welt stand kurz vor dem Untergang. Heute ist sie noch nähergekommen. Allerdings sind die Woken nur noch auf taube Ohren gestoßen: die intellektuelle Elite der Menschheit konnte die Menschheit nicht durch Predigen retten – auch wenn wir jahrzehntelang nur die Wahrheit sagen. Je länger wir Woken leben, desto schwächer wurde unser Bezug zur materiellen Realität. Konkret bedeutet dies, dass unsere Sprache nicht nur abstrakt, sondern auch kryptisch und abstrus wird. Wir erkannten, dass die Welt in der die Nicht-Woken leben ein Inferno ist, dass auf die Apokalypse zusteuert. Keiner konnte aber unsere komplizierten Worte verstehen. Die Negativität, die von normalerweise so positiven Menschen, hervortrat verunsicherte die Nicht-Woken. Wir Woken wurden somit zu Moralisten ohne Empathie, geschweige denn Sympathie für Nicht-Woken. Die paranoiden Herrscher der Nicht-Woken, glaubten die Woke-Religion würde ihr faschistisch-kapitalistisches System zerstören, in Wahrheit wollten wir vor dem Untergang der Menschheit und den Planeten warnen. Überraschend wurden wir Woken von den faschistisch-kapitalistischen Sturmsoldaten angegriffen: ganze Armeeverbände belagerten die heiligen Städte der Woken seit der Wintersonnenwende – einer der wichtigsten Feiertage im Wokeismus. Mein Kind führte die Black Blocks und Antifa-Heere in mehreren Schlachten. Ich kämpfte mit in der Diversity-Division und besiegte die letzte Armee, die unsere Metropole noch belagerte. Unser Pyrrhussieg hat unsere Religionsgruppe an den Rand der Vernichtung gedrängt. Wir Woken wissen, dass der sogenannte „Kreuzzug gegen den Neobolschewismus“ unserer Erzfeinde nicht ihr letzter war. Münchhausen, Teslanopolis, Nova Iorc und viele andere woke Städte nach der „militärischen Spezialoperation“ an Raketen und Raumschiffe zu bauen, um die Erde zu verlassen. Mond und Mars werden oder sollten kolonialisiert werden. Nur wenige Kolonialisten überlebten die Überfahrt, während jene Woken, die auf der Erde blieben entschlossen waren ihre Ideale zu verteidigen. Mein Kind wurde dem Namen Kerr verliehen als Dank für den Siegfrieden, den es ermöglicht hatte. Vor meiner Erleuchtung hieß ich Anna-Marie Mendel. Ich wurde zu Amar und seitdem habe ich über die Geschichte meiner Community und deren wahren Religion geschrieben. In den letzten Monaten bediente ich mich mehr meines Schwerts als meines Stifts, weswegen ich der Wahrheit um Verzeihung bete.

(Der nächste Tagebucheintrag fand etwa zwanzig Jahre später statt.)

§2 Die sieben Kriege haben mich verändert Mitgefühle hatte ich mit Nicht-Woken Menschen kaum. Heute habe ich kaum Gefühle und bin kaltherzig geworden. Vom Licht bin ich in die Dunkelheit gewandert. Wie Dante habe ich mich dabei verirrt. Ich habe die Woke-Wahrheit vergessen. Mein Geist ist dadurch unrein geworden. Seit Jahren werde ich Anna genannt und fast hätte ich meinen woken Namen Amar völlig vergessen, wenn ich es nicht aufgeschrieben hätte. (…) Alekx, mein zweites Kind, erließ das eiserne Gesetz: er soll Regieren als aufgeklärter Despot über die Kleinstadt herrschen, bis die Welt wieder zur Vernunft kommt. Die meisten Einwohner wurden getötet oder sind geflohen, wobei Kerr die Erde mit den meisten Stadteinwohnern verließ, um den Mars zu kolonialisieren. Er versprach uns ein Weltraumheer als Hilfstruppen zu schicken und somit die Stadt zu retten. Stattdessen schickte er uns Raumschiffe, um uns und die letzten Einwohner zu evakuieren, denn die „Hilfstruppen“ wollten nicht mehr als Taxifahrten unternehmen. Die sieben faschistisch-kapitalistischen Kriege und ihre Nebenwirkungen wie Hungersnöte, Völkerwanderungen, Seuchen, Flucht zum Mond oder Mars u.s.w. reduzierten die Menschheit auf unter einer Milliarde auf der Erde, die jetzt dem fiktiven Land Mordor aus dem Romanzyklus Herr der Ringe sehr stark ähnlich sieht. Als Hohepriesterin der Woke-Religion muss ich mich an die alten Dogmen erinnern – manche die längst vergessen wurden. Alekx und ich beschlossen die Erde nicht zu verlassen, während Kerr mit einigen „Erd-Nostalgikern“ zurückkam, nachdem es sich hier auf der Erde ruhiger wurde. Kerrs Armee besiegte die letzten Post-Faschisten und Neokapitalisten. Am Fluss Gambia erbaute sie eine neue Stadt, die Leute aus aller Welt anzog. Alekx wurde immer mehr zu einem unberechenbaren Autokraten, bis selbst ich ihm sein Mandat der Wahrheit für beendet erklärte. Ich zwang ihm seine Abdankungsurkunde zu unterschreiben und bildete einen Hohen Rat der Woken. Einstimmig geschlossen wir den Exodus zur neuen Stadt an der Gambia zu legalisieren. Unsere Heimatsstadt wurde indes zu einer kleiner werdenden Insel in Ödland. Alekx bat mich jeden Tag sein Mandat zurückzubekommen. Im Streit und Zorn wurde sein Geist so korrumpiert, dass er Kerr und mich als Heretiker*innen bezeichnete und sich selbst als Wokenpapst ernannte, wobei das Papsttum und der Wokismus zwei fundamental verschiedene Religionen sind. Das Papstum ist die einzige der heutigen Religionen, die gänzlich vom Christentum abstammte, während viele andere Religionen unsystematische Mischungen wurden. In seinem Kreuzzug gegen Kerr versuchte er die Stadt seiner Schwester zu zerstören und starb fast bei dem Versuch; denn sein Heer wurde auf dem Weg von Naturkatastrophen ausgerieben. Die Woke-Wahrheit vollbrachte ihr Karma und Alekx wurde verhaftet. Alekx wurde dazu verurteilt seiner Schwester beim Aufbau seiner Stadt zu helfen.

Das Katalog der Woken-Proheten und Heiligen

§3 Die Heilige Thudji LeBurt soll die erste Aufgeklärte gewesen sein, die uns von Konzepten wie falschen Religionen, Rassen, Geschlechter, Gesellschaftsklassen befreit hatte. Ihre Schriften sind das Kanon der einzig wahren Woke-Religionen. Die Heilige Gretel Thunfishberg wurde die Schutzpatronin der Natur und der Lebenden. Die Heilige Thudji LeBurt soll vom Licht abgestammt worden sein, während die Heilige Gretel Thunfishberg vom Urgeist abstammte, der alles Leben auf Erden erschaffen haben soll. Sarra Knechtwagen wurde zuvor noch als Heilige angesehen, dann gegcancelt (was soviel bedeutet wie exkommuniziert, boykottiert und exiliert). Dennoch beten viele Ketzer die Scheinheilige Sarra Knechtwagen an. Ihr Schwarzes Buch besteht zu zwei-Drittel aus einer Infragestellung der Gerechtigkeit der Woke-Religion und das letzte Drittel appelliert dazu die wahre Woke-Religion weiterhin zu folgen, aber diese auch zu Reformieren. Als wäre die Religion der Wahrheit nicht wahr genug. Dieser Widerspruch zeigt wie widersprüchlich die Grundthese ihres ketzerischen Buches ist. Der Ritus der im letzten Drittel vorgeschlagen wird ist zwar kaum ketzerisch, doch die ersten Zwei-Drittel sollen Woken zu Nihilisten gemacht haben. Ich musste ihr unsägliches Buch dreimal lesen um die faschistischen und kapitalistischen Strukturen zu erkennen. Seitdem wundert es mich nicht, dass sie sowohl von Ketzern und Erzfeinde der Woken angebetet wird. Die Heilige Sanadia, die Heilige Aleja und die Heilige Ethelly wurden zu Schutzpatronen der Diversität, des Sozialismus und der Queerrevolution gepriesen. Alle drei gelten als Trinität des Feminismus. Die Heilige Amar soll mein Alter-Ego sein: meine Tochter Kerr versprach mir, dass ich nach meinem Rückzug aus dieser irdischen Existenz sie die vorschlagen wird mich zur Heiligen zur nächsten Heilige zu ernennen. Ich lehnte dies ab, wollte aber, dass ihr Kind schon seit der Schwangerschaft selig rein und heilig werde. Kerr stieg zur Königin auf und lehrte ihr Volk die Wahre Woke-Religion bei. Die vierte oder fünfte Woke-Generation schien friedlicher zu sein gegenüber der ersten drei Generationen, die mehrere Katastrophen durchmachen musste. Königin Kerr brachte Frieden und Erleuchtung in ihrer neu gegründeten Metropole. In der Heiligen Stadt Keräria lebten die Menschen bis zu Tausend Jahre und ernährten sich von Licht und Glückseligkeit. Alle anderen Heiligen Woke-Städte isolierten sich von der Außenwelt, ganz im Widerspruch zu ihrem Glaubensbekenntnis und gliederten sich schrittweise innerhalb der faschistischen Reiche oder kapitalistischen Privateigentumen ein. Ich hoffe, dass auch die achte Woke-Generation in Frieden leben wird ohne den es keine woke-fromme Glückseligkeit geben kann.

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